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Die chronische Krankheit

Kommen wir also zu den chronischen Krankheiten. Mit der Lehre der chronischen Krankheiten hat Hahnemann die Tür weit zu einem Gebiet aufgestossen, das bis heute nur der Homöopathie bekannt ist, und das eine ganz neuartige Betrachtungsweise von bestimmten Krankheitserscheinungen, ja, von Leben, Gesundheit und Krankheit ermöglicht. Die therapeutischen Konsequenzen daraus sind auch nur der Homöopathie bekannt. Krankheiten, bei denen sich noch heute die Schulmedizin die Zähne ausbeisst, deren Symptome sie höchstens mit giftigen oder starke Nebenwirkungen erzeugenden Medikamenten palliativ behandeln kann, sind mit Homöopathika durchaus heilbar z.B. Asthma, Rheuma, Hauterkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, u.s.w. Der aufmerksame Leser hat bestimmt schon bemerkt, dass Hahnemann etwas anderes unter chronischer Krankheit versteht, als die Schulmedizin das tut. Was war der Anstoss, der Hahnemann zur Entwicklung dieser Lehre brachte? Ca. 25 Jahre lang hatte er Arzneimittel geprüft, sie nach der Ähnlichkeitsregel angewendet und ihre Wirkung beobachtet und aufgezeichnet. Dabei war ihm aufgefallen, dass in manchen Fällen seine Mittel hervorragend wirkten und die Patienten danach gesund blieben, in vielen Fällen aber nach der guten Wirkung eines Mittels sich bald wieder krankhafte Zustände einstellten. Meist waren es dieselben oder ähnliche Erscheinungen, die sich wieder erhoben, und nun zeigten sie sich hartnäckiger. Er begann sich darüber Gedanken zu machen, was dahinter stecken könnte. An der Homöopathie konnte es nicht liegen, denn eine Heilmethode, welche die gefährlichsten, schwersten, oft tödlich verlaufenden akuten Krankheiten in den Griff bekam, müsste doch auch mit den chronischen, subakut verlaufenden Krankheitserscheinungen fertig werden. Mit dieser Frage beschäftigte sich Hahnemann 12 Jahre lang (zwischen 1816 und 1828-30 also im Alter zwischen 61 und 73 Jahren). Er hat in dieser Zeit nicht nur die Antwort gefunden, sondern auch die therapeutischen Konsequenzen daraus gezogen und praktische Anweisungen erteilt. Seine Antwort lautet: Wenn ein Mensch nicht völlig gesund ist, wenn bei ihm immer wieder einmal krankhafte Erscheinungen aufflackern, dann leidet er an einer chronischen Krankheit. Die immer wieder sich einstellenden Krankheitserscheinungen darf man dann nicht als immer wieder neue Erkrankungen auffassen, sondern muss sie als Teil eines tief liegenden Ur-Übels begreifen. Wie schon erwähnt, handelt es sich dabei um Vorgänge, die ähnlich den Eruptionen eines Vulkans sind, wobei das eigentliche Übel tief im Inneren immer vorhanden ist. Wollte man einen Vulkan zum Schweigen bringen, müsste man die unter der Erdoberfläche brodelnde Lava löschen und zur Ruhe bringen. So ist es auch mit der chronischen Krankheit. Es nützt nichts, wenn man ihre immer wieder aufflackernden akuten Schübe bekämpft, da sie nur die an die Oberfläche kommenden sicht- und fühlbaren Zeichen dieser sonst unsichtbaren, immer vorhandenen Krankheit sind.

Dass es solch eine Krankheit überhaupt geben konnte, dass also im Organismus eines Menschen eine unheilbare Krankheit sich immer weiter vorfrass, die zeitweise zu schweigen schien, dann aber immer wieder neu und an anderen Stellen des Körpers hervorbrach, war Hahnemann und seinen ärztlichen Zeitgenossen bereits durch die Syphilis bekannt. Er führte sie auch als Beispiel für solch eine chronische Krankheit an. Bei ihr gibt es eine Ansteckung und eine Inkubationszeit, und dann folgen – wenn sie unbehandelt bleibt – in kürzeren oder längeren Abständen bestimmte, sicht- und spürbar werdende Stadien, die sich immer mehr ins Zentrum des Organismus voranschieben, bis der Mensch durch totale Destruktion zu Grunde geht. Zwischendurch aber gibt es Zeiten, in denen Ruhe zu herrschen scheint, in denen die Krankheit schweigt, was aber absolut trügerisch ist. Und wenn man die Krankheit mit den damaligen Methoden der Schulmedizin behandelte – die äusseren Manifestationen (Schanker, Hauteruptionen u.s.w.) durch lokale Massnahmen zum Schweigen brachte, dann verschlimmerte man die innere Krankheit nur, beschleunigte ihren Verlauf oder fachte ihre destruktiven Kräfte nur noch an.

Dieser Typ von Krankheit hat also andere Merkmale als die akute. Ihre Charakteristik besteht aus drei wichtigen Punkten:

  • Sie ist chronisch, unheilbar und endet erst mit dem Tod.
  • Sie frisst sich unter immer wieder aufflackernden Schüben in immer zentralere Regionen vor.
  • Wenn ihre äusseren Manifestationen durch lokale Massnahmen unterdrückt werden, geschieht das Gegenteil von Heilung, und sie verschlimmert sich.

Nun ist die Syphilis ja eine Geschlechtskrankheit. Auf diesem Gebiet fand Hahnemann noch eine zweite, die er Sykosis nannte oder „Feigwarzen-Krankheit“. Diese nimmt ihren Ausgang von der Gonorrhoe (Tripper) und hat dieselben Charakteristiken wie oben erwähnt, wenn auch der Verlauf und die Destruktion, die sie anrichtet, anders aussehen als bei der Syphilis.

Hahnemann fand heraus, dass es auch eine nicht-venerische chronische Krankheit gab, der er den Namen „Psora“ gab. Er übernahm diesen Namen aus einer vorchristlichen Übersetzung des Alten Testaments, wo er diesen krätzeartigen Ausschlag bereits beschrieben fand. Früher machte sich die Psora vor allem durch solche krätzeähnlichen Hautausschläge sichtbar. Während sie später, vom Mittelalter an bis in die Neuzeit, durch aufkommende Bäder, Waschungen und Salbenbehandlungen mehr und mehr von der Oberfläche des Körpers verschwand und deswegen im Inneren noch verheerender wirkte. Man muss aber verstehen, das die Krätze keine Hautkrankheit ist. In der Homöopathie gibt es keine eigenständige Hautkrankheiten. Alle Hauterscheinungen haben mit inneren Vorgängen zu tun, sie sind nur der sichtbare Teil einer inneren Krankheit, ein Zeichen der inneren chronischen Krankheit.

Aus der Erkenntnis der chronischen Krankheit ergeben sich für den Therapeuten auch die Konsequenzen, die er bei der Behandlung ziehen muss. Will er den Menschen heilen und ihm nicht nur für kurze Zeit Ruhe verschaffen, muss er die banale Erkrankung als ein Aufflackern der chronischen Erkrankung erkennen und behandeln, er muss versuchen die chronische Grundkrankheit auszurotten.

Wie heilt man aber die Psora, die Sykosis, die Syphilis oder eine Kombination von ihnen? Dazu möchte ich nochmals ein paar theoretische Überlegungen anstellen.

Krankheit ist eine Verstimmung der Lebenskraft. Bei der chronischen Krankheit ist die Lebenskraft folglich chronisch und grundlegend verstimmt, dem Steuerungszentrum ist ein Fremdprogramm aufgedrückt worden, gegen das es sich nicht selbst zur Wehr setzen kann. Wir haben gehört, dass dieses Fremdprogramm, das die Lebenskraft verstimmt, energetisch, dynamisch, immateriell ist. Und genau darum muss man energetische, dynamische, immaterielle Arzneimittel einsetzen, wenn man wirklich heilen will.

Hier muss noch eine Zwischenbemerkung eingeschoben werden. Hahnemann spricht immer davon, dass die Psora, Sykosis und Syphilis durch Ansteckung erworben werden. Er meinte damit aber nicht die Infektion mit Erregern, die kannte man zu jener Zeit noch gar nicht. Aber man wusste, dass die epidemischen und auch die Geschlechtskrankheiten durch Ansteckung weiter gegeben werden konnten. Hahnemann gab diesem Vorgang den Ausdruck Miasma (Griechisch = Besudelung, Verunreinigung). So benutzte Hahnemann für die Psora, Sykosis und Syphilis folgerichtig die Bezeichnung «chronisch-miasmatische Krankheit». Später wurde in der Literatur oft nur noch den Ausdruck Miasma verwendet, um das auszudrücken, was Hahnemann unter einer chronisch-miasmatischen Krankheit verstand.

Hahnemanns Nachfolger erweiterten seine Lehre von den chronischen Miasmen um einen entscheidenden Punkt, in dem sie sagten: Man kann Psora, Sykosis und Syphilis nicht nur erwerben (durch Ansteckung), sondern man kann sie auch vererbt bekommen! Das bedeutet, dass es auch eine hereditäre (vererbte) Psora, Sykosis oder Syphilis gibt. Das erlebt nicht nur der Homöopath, sondern auch der Schulmediziner weiss, dass z.B. ein Syphilitiker einen syphilitischen „touch“ an seine Nachkommen weitergeben kann. Und so gibt es in der Tat schon Säuglinge und Kinder, die vom sykotischen oder syphilitischen Miasma stigmatisiert sind. Und das bedeutet, dass auch in ihnen – ohne dass sie jemals ein akutes Stadium hatten! – das entsprechende Miasma seine zerstörerische Kraft im Verborgenen entfaltet und eines Tages seine Spätfolgen hervorbringen wird.

Aber eines ist deutlich: Wenn Hahnemann von „Ansteckung“ spricht, dann wird er damit nicht seinem Prinzip untreu, dass Krankheit eine Sache der verstimmten Lebenskraft sei. Erst wenn die Lebenskraft, das Steuerungszentrum, aus dem Gleichgewicht gebracht ist, beginnt die Krankheit. Nicht die Ansteckung macht die Krankheit, sondern ob und wie die Lebenskraft darauf reagiert, ist das Entscheidende. (Viele Männer bekommen z.B. keine Gonorrhoe, selbst wenn sie sich infiziert haben müssen!) – Es gehört eine spezifische Empfänglichkeit der Lebenskraft dazu.

Hahnemanns Nachfolger haben dann später noch eine vierte chronische Krankheit der Psora, der Sykosis und der Syphilis hinzugestellt: die Tuberkulinie. Homöopathen aus der jüngeren Zeit sprechen auch noch von dem Impf-Miasma, der Arzneimittelkrankheit (fortlaufende Unterdrückungen durch Medikamente auch homöopathische… bereits Hahnemann erwähnte schon die Arzneimittelkrankheit) und der Cancerinie. Bei der Cancerinie (Krebs-Miasma) sind oftmals mehrere Miasmen miteinander verbacken, das heisst, sie haben sich miteinander verbunden.